GALLERYTALK.NET | 22 April 2021

Gretchen Andrew interviewed on her show at Annka Kultys Other Forms of Travel by Anna Meinecke for Gallerytalk.net (article in German).


By Anna Meinecke

Aufmerksamkeit ist Macht. Praktisch, dass Gretchen Andrew weiß, wie sie Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Künstlerin manipuliert Suchmaschinen und verhilft ihren Arbeiten damit zu mehr Online-Relevanz. Längst ist sie auch offline eine Hausnummer. In der Londoner Galerie Annka Kultys eröffnet ihre Solo-Show “Other Forms of Travel”. Aus diesem Anlass sprechen wir über SEO als kreatives Werkzeug, das perfekte Kunststudium und einen Kühlschrank voll Champagner.

gallerytalk.net: Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit nennst du dich Search Engine Artist, also Suchmaschinen-Künstlerin. Darunter können sich sicherlich nicht alle direkt etwas vorstellen. Erklär doch mal, was ist das überhaupt?
Gretchen Andrew: Ich nenne mich Search Engine Artist, weil meine Arbeit durch Google sichtbar wird. Ich bastele Vision Boards, also Collagen, die meine Wünsche und Träume abbilden – auf persönlicher, professioneller oder politischer Ebene. Und dann manipuliere ich das Internet so, dass sie wahrwerden. Infolgedessen tauchen meine Vision Boards bei bestimmten Suchanfragen ganz oben in den Ergebnissen auf.

Du betreibst also, worum sich viele Firmen noch drücken: Suchmaschinenoptimierung, kurz SEO. Was ist das eigentlich?
Suchmaschinen basieren auf einem Ranking-System. Sie bewerten, welche Inhalte wichtig oder unwichtig sind. SEO umfasst unterschiedliche Methoden, mit denen man die eigenen Inhalte besser bei Suchmaschinen platzieren kann. Man kann starke Linkstrukturen schaffen, passgenauen Content kreieren und Meta-Daten nutzen. Wer begreift, wie künstliche Intelligenz und Computerlinguistik funktionieren, kann sich das zunutze machen.

Klingt ganz schön speziell. Geht uns aber alle etwas an. Wieso nochmal?
Es ist wichtig, zu verstehen, wie man mit Algorithmen sprechen muss und wie bestimmtem Content online der Anschein von Wichtigkeit verliehen wird. Weite Teile des Internets funktionieren nach kapitalistischem Prinzip, Dinge werden online verkauft und gekauft. Es geht um Kommerz und nicht um Kultur. Deswegen wird Suchmaschinenoptimierung noch nicht als kreatives Werkzeug verstanden. Stattdessen werden damit Socken oder Urlaube verkauft.

Wieso ist der Kunstkontext der richtige, um Menschen die Bedeutung von SEO näherzubringen?
Künstler*innen haben schon immer aus ihrem Inneren heraus gearbeitet, um die Welt im außen besser zu machen. Und sie haben andere auf diese Reise mitgenommen. Indem Van Gogh die „Sternennacht“ auf Leinwand gemalt hat, hat er anderen seine Sicht auf die Welt gezeigt. Algorithmen spiegeln ebenfalls bestimmte Weltanschauungen wider. Jemand hat den Algorithmus aus einer ganz persönlichen Perspektive heraus geschrieben, vielleicht für eine Firma, die ihrerseits bestimmte Interessen verfolgt.

Man spricht von „algorithmic bias“, quasi algorithmische Voreingenommenheit, wie zum Beispiel beim “rassistischen Waschbecken“, das nicht alle Hauttöne als „hautfarben“ erkannt hat.
Genau, Algorithmen bergen Potenzial, aber sie haben auch ihre Beschränkungen. Sie sind nicht objektiv. Sie können geformt werden, um unterschiedliche Ergebnisse hervorzubringen. Technologie tut sich schwer mit Ambivalenzen. Dafür ist Kunst perfekt geeignet, um nuancierte Perspektiven aufzumachen. Metaphern und Symbolik spielen eine Rolle und die Vorstellung von Wahrheit ist eine ganz andere.

Ausgangpunkt für deine digitale Manipulationsarbeit sind analoge Collagen auf Leinwand. Die sind oft pink, girly und deutlich als Produkt intensiver Bastelarbeit identifizierbar, eine traditionell eher weibliche Domäne, während Technikthemen traditionell als Männerdomäne gelten. Ist dieser Gegensatz bewusst gewählt?
Absolut. Ursprünglich habe ich meine Suchmaschinen-Kunst mit klassischen Ölgemälden verbunden, aber ich habe schnell gemerkt: Da fehlt irgendwas. Es gibt diese Vorstellung davon, wie technologische Macht aussieht, wie jemand aussieht, der das Internet manipuliert und digital politischen Druck ausübt. Der habe ich nach außen hin nie entsprochen. Auch Vision Boards sehen nicht aus, als könnten sie das Internet manipulieren und Träume wahrwerden lassen. Sie sind verspielt, sie glitzern – also rechnet niemand damit, dass sie sich zur Machtausübung eignen.

Glaubst du an Manifestation, also daran, dass Wünsche und Ziele durch Willenskraft wahrwerden lassen?
Ein bisschen Magie ist immer im Spiel, aber ich wünsche mir ja nicht einfach etwas. Ich formuliere eine Vision davon, wie mein Leben aussehen soll, und dann realisiere ich sie mit technischer Arbeit. Was nicht bedeutet, dass ich nicht wahnsinnig viel Freude daran hätte. Unglaublich, dass ich beruflich Vision Boards machen darf. Darauf Champagner!

Du hast den Schampus angesprochen … Wenn ich mir vorstelle, wie du arbeitest, steht da immer irgendwo eine geöffnete Flasche Champagner, überall fliegt Glitzerkrams rum und im Hintergrund läuft Taylor Swift. Stimmt oder stimmt gar nicht?
Das trifft es tatsächlich ziemlich genau. Im vergangenen Jahr hatte ich eine Ausstellung im Monterey Museum of Art, „Future News“. Die haben wir aufgebaut, obwohl das Museum aufgrund der Pandemie geschlossen bleiben musste. Zu dem Museum gehört eine historische Villa direkt am Wasser. Die hat bestimmt 30 Zimmer, alle absurd luxuriös eingerichtet. Es gibt einen Ballsaal, einen Flügel und einen Kühlschrank voll Champagner. Als ich dort gearbeitet habe, war es also wirklich so, wie du beschrieben hast: Wenn mir danach war, habe ich mir den Glitzer von den Händen geschrubbt, mich an den Flügel gesetzt und Taylor Swift Songs gespielt – das habe ich mir vor Ort beigebracht.

In der Zeit sind viele der Arbeiten entstanden, die jetzt in der Ausstellung bei Annka Kultys zu sehen sind. Eins der Projekte, das im Rahmen von „Other Forms of Travel“ zu sehen ist, ist „best MFA“. Wer versucht herauszufinden, wo ein Master of Fine Arts am besten zu erwerben wäre, findet jetzt deine Kunst. Wieso wolltest du ausgerechnet über diese Suchanfrage gefunden werden?
Du glaubst ja gar nicht, wie oft ich gefragt werde, wo ich meinen MFA gemacht habe. Die Antwort ist: gar nicht. Bei meinen Vision Boards geht es immer auch darum, meine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zu validieren. In der Kunstwelt ist es besonders hart, weil es so sehr auf Referenzen ankommt. Vielleicht ist die beste Ausbildung, der „best MFA“, campen mit Freund*innen, Champagner trinken am Strand, russische Romane lesen, psychedelische Drogen ausprobieren oder was auch immer. Du bist nicht zur Uni gegangen, hast dir aber selbst beigebracht, zu programmieren? Wieso solltest du mit diesen Fähigkeiten keinen Job finden? Wem steht es zu, darüber zu urteilen?

Also lieber nicht studieren?
Ach, ich will mich gar nicht gegen das akademische System aussprechen. Ich habe Informationstheorie studiert und in Tech-Unternehmen gearbeitet. Das alles nutze ich jetzt für meine künstlerische Praxis. Mein gesamter Werdegang seit meiner Kindheit spiegelt sich in meiner Arbeit wider – nichts davon wahr Zeitverschwendung. Wir sollten uns alle nicht so viele Gedanken darüber machen, wo die Reise hingeht. Sicher fühlen sich manche Entscheidungen mal wie Sackgassen an, aber irgendwann ergibt alles einen Sinn.

Du hast dich ins Programm der Whitney Biennale gemogelt, aufs Cover von „Artforum“ oder unter die Gewinner*innen des Turner Prize. Du hast Google glauben lassen, deine Arbeiten seien hilfreiche Suchergebnisse für „the next American president“. Macht es dir manchmal Angst, welches Maß an Manipulation dir möglich ist?
Klar, wir sollten alle ein bisschen Angst haben! Für mich ist es ein Machtspiel. Dabei stelle ich meine eigene Macht nicht infrage. Das machen Leute, die macht haben, nie. Aber ich mache bewusst kein großes Geheimnis um meine Techniken. Die Leute sollen sehen, dass auch ihnen diese Werkzeuge zugänglich sind. Ich will, dass sie sagen: „Wow, das ist cool, wie hast du das geschafft?“ Und dann: „Moment, wenn du das kannst, dann ist das aber ganz schön bedenklich. Da sollten wir als Gesellschaft genauer hinschauen.“ Meine Arbeit sorgt dafür, dass Leute genauer hinschauen.

Wie gelingt dir das?
Meine Arbeit hat etwas total Performatives. Es geht um mich, mich, mich; um Glitzer, Geld und Champagner. Alle anderen, die Suchmaschinenoptimierung betreiben, haben auch nur ihre eigenen Interessen im Sinn. Darauf möchte ich hinweisen. Die Leute sollen sich fragen: Welche Welt wünschen wir uns und wie können wir Technologie nutzen, um sie zu bauen?

Ein Gedanke lässt mich ja nicht los: Wir kennen deine großen Internetmanipulationen. Aber hast du vielleicht auch im kleinen Online-Realitäten geschaffen, die einfach so als Wahrheiten kursieren?
Ich bemühe mich, eine sehr aufrichtige und freundliche Person zu sein, aber ich mag es auch, dass Leute ein bisschen Angst vor mir haben. (lacht) Mir fällt zu dem Thema mein allererstes SEO-Projekt überhaupt ein. Es gibt diese eine Suchmaschine, Jeeves. Das war die erste, die ich überhaupt benutzt habe. Damals wusste ich noch nicht, was eine Suchmaschine ist. Aber ich kannte diese andere Website, lovecalculator.com. Da gibt man den eigenen Namen und den seines Crushs ein. Die Website sagt einem dann, wie wahrscheinlich es ist, dass man zusammen glücklich wird. Ich habe Jeeves benutzt wie lovecalculator.com und meine erste Suchanfrage war: „does Mitchell like me“.

Nicht ganz die Art und Weise, wie man eine Suchmaschine benutzt.
Allerdings. Als ich Jahre später mein System entwickelt habe, mit dem ich bis heute das Internet manipuliere, habe ich dafür gesorgt, dass die Bildersuche auf die Frage „does Mitchell like me“ nur Bilder mit dem Schriftzug „YES!“ anzeigt. Was nicht richtig war. Mitchell stand nicht auf mich. Aber das Internet behauptet Gegenteiliges. Vielleicht sollte ich mal Kontakt aufnehmen und nachhorchen, wie die Lage heute ist? (lacht)

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