MONOPOL | 1 July 2017

In concurrence with her first solo show at Annka Kultys Gallery, Monopol has profiled ‘reality artist’ Signe Pierce (article in German).


“Reality Artist” Signe Pierce”Ich bin Pop und ich bin Kunst”

By Anika Meier

Gekleidet wie ein außerirdisches, ambiges Porno-Starlet ist Signe Pierce durch Vergnügnungsviertel gelaufen – und wurde beschimpft und angegriffen. Das Video dieser entlarvenden Performance wurde ein Youtube-Hit. Doch Internet-Ruhm reicht der 28-jährigen Amerikanerin nicht. Als “Reality Artist” will sie der Kunstwelt zeigen, was Performance Art in Zeiten von Instagram kann

Die amerikanische Künstlerin Signe Pierce hat vor ein paar Jahren mit ihrer Arbeit “American Reflexxx” einen Viralhit gelandet. So plump wie dieser Einstieg in den Text ist das knapp 15-minütige Video nicht, das mittlerweile auf YouTube über 1,6 Millionen Mal angesehen wurde. Mit ihrer damaligen Partnerin, der Filmregisseurin Alli Coates, ist Signe Pierce ins Stadtzentrum von Myrtle Beach, South Carolina, gefahren, um eine Stunde lang zu filmen, wie sie im Mini-Rock auf High Heels mit einer spiegelnden Maske vor dem Gesicht durch die Stadt läuft. Sie werden nicht glauben, was dann passiert ist.

Genau wegen dieses unvorhergesehenen “Heftig”-Effekts ist das Video international viral gegangen. Pierce läuft also wie eine Blondine, die gerade vom Porno-Set kommt, etwas zu sexy, zu anstößig und zu provokant durch die Stadt und wird sehr bald sehr wüst beschimpft. Ein wütender Mob verfolgt sie, Menschen schimpfen und filmen, sie brüllen und pfeifen und wollen eigentlich nur eins, sie wollen wissen, ob hinter der Maske ein Mann oder eine Frau steckt. Sie möchten, dass die Maske abgenommen wird, damit sie das Gesicht sehen und das Geschlecht bestimmen können.

Gerade als ich mir zum wiederholten Male das Video ansehe, vibriert mein Smartphone. Es ist Signe Pierce, die sich via Direktnachricht auf Instagram meldet. “Hi! Any chance you’re free to Skype within the next hour or so?” Ich antworte sofort. “Sicher, gib mir fünf Minuten.” Über eine Woche haben wir versucht, Zeit für ein Gespräch über Performance Art in Zeiten von Instagram zu finden. Irgendwann schrieb sie mir, sie habe jetzt ein paar Stunden, weil sie ihre Haare gefärbt bekomme. Da ich nicht in einem Friseurstuhl sitze, sondern durch ein Museum laufe: “Sorry, no chance. Speak soon.” Auf den traurigen Smiley verzichte ich. Abends dann sah ich ein Foto von ihr im Friseurstuhl in ihren Instagram Stories, jetzt sitzt sie mir auf Skype gegenüber.

Sie ist sehr blond, platinblond, sie streicht sich die Haare alle auf eine Seite, ihren Kopf legt sie beim Sprechen auch immer leicht zur Seite. Ich mache ihr lieber kein Kompliment zur Haarfarbe – ihre Haare sind wirklich sehr schön blond – und frage sie stattdessen etwas, das ich sie eigentlich gar nicht fragen will. Denn gefühlt hat sie in Interviews seit 2015 schon alles zu “American Reflexxx” gesagt. Da ich aber eben noch gesehen habe, wie sie von einer Frau absichtlich und mit voller Wucht zu Boden gestoßen wurde, der Mob sich im Kreis um sie stellte und sie irgendwann mit blutigem Knie, verschwitzt, leicht schwankend und wie benommen barfuß weiter durch die Straßen von Myrtle Beach lief, frage ich sie doch, ob sie nicht irgendwann wahnsinnige Angst bekommen habe.

Niemals hätte sie erwartet, dass solch eine große Menschenmenge mit solch einer Aggression und Brutalität auf sie reagieren würde. Einen Fluchtplan habe es deshalb gar nicht gegeben, sie wusste nur, dass sie weitermachen musste, dass sie es wollte, obwohl ihr hinter der Maske die Tränen über das Gesicht liefen. Sie hatte Angst. Noch mehr Angst aber hatte sie davor, den wütenden Mob gewinnen zu lassen, die Maske abzunehmen und ihnen die Angst vor dem Fremden zu nehmen.

Später haben Alli Coates und Signe Pierce “American Reflexxx” ein soziales Experiment genannt: Wie reagieren Menschen, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, das sie nicht verstehen? Die Menschen in Myrtle Beach haben nicht verstanden, warum eine Person – Mann, Frau, Trans, was denn nun, verdammt? – mit einer Maske vor dem Gesicht durch die Straßen läuft, also ganz offensichtlich etwas zu verbergen hat, und nicht wie die anderen Freaks etwas von ihnen will. Ihr Geld zum Beispiel. Wie all die wilden Kerle, die an den Touri-Spots herumlungern, aussehen wie Zombies und das Inventar einer Geisterbahn sein könnten. Am wenigsten freakig sah in dieser Umgebung wahrscheinlich Pierce aus, nur bewegte sie sich wie jemand durch die Straßen, den die Menschen sonst aus dem Fernsehen und Pornofilmen kennen. Die Blondine ohne Eigenschaften. Gesichtslos. Ihr Body, verdammt heiß, so heiß, dass Name und Identität nicht egaler sein könnten. Pierce wollte also diese Blondine in der Realität auftreten sehen. Während sie darüber spricht, macht sie eine Bewegung mit ihren Händen wie ein Kind, das eine Lego-Figur an den ihr angedachten Platz abstellt.

Signe Pierce bezeichnet sich selbst als “Reality Artist”. “Net Artist” gefällt ihr als Label nicht, mit “Post-Internet Art” kann sie gar nichts anfangen, schließlich ist das Internet noch da, und eine Verbindung zum Selfie Feminist Movement, wie sie das nennt, was ihre weiblichen Kolleginnen wie Molly Soda, Arvida Byström und Alexandra Marzella in den Sozialen Medien machen, sieht sie auch nicht wirklich. Auf ihrer Agenda steht nicht der Kampf um Akzeptanz verschiedener Körperformen, #freethenipple oder #paythenipple (Leah Schrager).

Eine Feministin, das sei sie natürlich schon, zu 100 Prozent. Sie reklamiert das Label Technofeminismus für sich, wegen der neuen Technologien, die zum Einsatz kommen, und weil der Cyberfeminismus seit Donna Haraway schon mit Referenzen überladen ist. Sie findet lieber eigene Definitionen und ein eigenes Vokabular.

Wie das mit ihr und der Kunstwelt eigentlich sei, frage ich sie. Wird sie als Künstlerin akzeptiert und ernst genommen oder wird ihr um die Ohren gehauen, dass Selfies keine Kunst seien und überhaupt: zu sexy, zu verführerisch, zu pink? “Ich bin Pop und ich bin Kunst”, sagt sie. Schwierig sei es schon ein wenig für sie, weil sie zwar diesen Viralhit mit “American Reflexxx” hatte, im “New York Magazine” sei sie in der Auswahl von Jerry Saltz unter den “Top 11 artists to watch”gewesen, Anerkennung fehle also eigentlich nicht.

“American Reflexxx” war zuerst 2013 auf der Art Basel/Miami Beach zu sehen gewesen und unter anderem im Pariser Palais de Tokyo. Nur sei sie eben auch im Internet populär und das sei schwer zu verdauen für die Kunstwelt. “Die Kunst muss von den Leuten gesehen werden, die nicht danach suchen”, sagt sie. Die nicht in eine Galerie gehen und wissen, dass sie in Kunst hineinlaufen – dass es eine Performance ist, wenn eine Künstlerin fordert, traktiert mich mit Werkzeugen. Gefahr im Verzug – Abbruch, Abbruch! Bei ihrer Performance auf der Straße in Myrtle Beach war dieser Abbruch so leicht nicht möglich, deshalb nennt sie es “Reality Art”. Weil die Realität ihr Medium ist.

Signe Pierce meint es ernst, sehr ernst mit ihrer Kunst. Man muss ihr nur Stichworte geben, Feminismus, Post Internet Art, Reality Art, Performance Art, Soziale Medien, Instagram Live, Persona, Identität, Authentizität, Alternative Facts – und sie hat eine Theorie parat. Sie erzählt, wie gerne sie liest und schreibt, wie sehr sie Baudrillard schätzt und nennt sich dann selbst irgendwann eine moderne Philosophin. Ja, das wäre sie gern, eine moderne Philosophin, sagt sie, greift neben sich auf den Tisch und setzt sich eine Brille auf die Nase. “I am secretly a scholarly brunette.” Jetzt muss sie selbst über sich lachen. Aber natürlich war das kein Witz. So blond ist sie natürlich auch nur, weil sie einen Charakter spielt, der auf Verführung setzt.

Sie ist sich sicher, dass die Kunstwelt irgendwann verstehen wird, ja, es einsehen und sich damit beschäftigen muss, dass die Produktion von Kunst in Zeiten von Instagram anders aussieht. Dass Kunstkritiker sich auf Instagram werden umsehen und dort über gute und schlechte Kunst werden urteilen müssen. Dass Künstler nicht immer nur die sind, die abtauchen, niemandem sagen, woran sie arbeiten, und wieder auftauchen, mit neuen Arbeiten, die an einer Wand in einem Museum oder einer Galerie hängen. Bei ihr vergehen manchmal nur 20 Minuten zwischen Produktion und Publikation. Fotos, die sie on the go macht, bearbeitet und postest sie sofort auf Instagram. Nur manchmal denkt sie darüber nach, ob es besser ist, eine Arbeit zurückzuhalten. In der Londoner Annka Kultys Gallery geht gerade ihre Einzelausstellung “Faux Realities” zu Ende. Sie hat dort ihre Fotografien gezeigt, ein Best of @signepierce gewissermaßen, die Viralhits aus den Sozialen Medien.

Mit dieser Ausstellung sei nun ihr erster Werkzyklus abgeschlossen, sagt sie, als gebe es nichts Selbstverständlicheres für eine 28-jährige Künstlerin, die noch vor wenigen Jahren Praktikantin im Metropolitan Museum of Art in New York und bei “Saturday Night Live” war. Signe Pierce ist selbstbewusst, sie weiß, was sie bisher erreicht hat, sie weiß aber auch, dass sie hart daran arbeiten muss, dass es so bleibt. “Don’t let the micro-fame get to your head”, erinnert sie sich selbst und spricht dabei tatsächlich mehr mit sich selbst als mit mir.

Für Instagratification, wie sie das System der Aufmerksamkeitsökonomie auf Instagram nennt, interessiert sie sich nicht besonders. Das soziale Netzwerk ist für sie wichtig, weil sie dort ihr Zielpublikum erreicht, also nicht die Kunstwissenschaftler und Kunstkritiker. Und weil ihr Zielpublikum eher nicht “Artforum” liest, hat sie ihr Manifest über Reality Art und Reality Artists gerade als Video Manifest veröffentlicht. Via Instagram Stories und zum Nachschauen auf ihrer Website. In Stichworten also, anders geht es in den Stories auf Instagram nicht, stellt sie Thesen auf. “We’re the stars of our own reality shows”, schreibt sie beispielsweise. “A virtual normality. A spectacle of banality.”

Als wir über Instagram Stories und Instagram Live sprechen, wedelt sie aufgeregt mit ihrem Smartphone in der Hand hin und her und freut sich, als würden gerade zehn Schokokuchen serviert werden. 200 Dollar habe sie bei der Präsentation ihrer Abschlussarbeit dafür ausgegeben, dass sie eine Stunde lang live streamen habe können. 200 Dollar! Sie wiederholt die Summe immer wieder. Sechs Jahre sei das erst her, 200 Dollar, für eine Stunde, und jetzt, ihr Traum, könne jeder einfach jederzeit live gehen und die Zuschauer mit in die eigene Realität nehmen. Das ist bisweilen maximal langweilig, das weiß sie, sie stört sich aber nicht weiter daran. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass es möglich ist, alles Weitere wird sich finden.

“Netflix werden die Menschen nutzen, um Scripted TV zu schauen, Instagram für Reality TV. @signepierce ist mein Kanal”, sagt sie. Ob sie nicht zumindest manchmal das Gefühl verspüre, nichts senden zu wollen oder die sozialen Medien gleich ganz verlassen will, frage ich sie. Ein Sabbatical, darüber habe sie tatsächlich schon nachgedacht. Sechs Monate abtauchen. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wieder auftauchen. Mit neuen Werken, über die sie in den letzten Jahren nachgedacht hat. Der Gedanke gefällt ihr plötzlich doch ziemlich gut.

Wie sie das umsetzen soll, weiß sie noch nicht. Nur eins, das weiß sie ganz sicher. Sie möchte ein Beispiel sein, eine Pionierin, wenn es um Kunst im Allgemeinen und Performance Art im Speziellen in Zeiten von Instagram geht. Das ist sie jetzt schon.

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