WIRTSCHAFTS WOCHE | 1 September 2020

The German magazine Wirtschafts Woche publishes an article focused on Gretchen Andrew’s artistic practice (article in German).


By Camilla Flocke

Als um 5 Uhr morgens die Sonne über Park City im US-Bundesstaat Utah aufgeht, sitzt Gretchen Andrew bereits zwischen grünen und blauen Ölkreidestiften, Farbtuben und Anspitzern. Eine kleine Ecke des Tisches, gerade groß genug für ihren Laptop, hat sie freigeräumt. Denn Andrew ist nicht nur Malerin, sondern auch Programmiererin: Inmitten dieses kreativen Chaos überlistet sie den wohl ausgeklügelsten Algorithmus der Welt, Googles Suchmaschine.

Wenn die Menschen etwas im Internet suchen, dann nutzen neun von zehn dazu Google. Weltweit. Was Google nicht anzeigt, existiert quasi nicht. Für Unternehmen ist die Suchmaschine so wichtig, dass sich längst eine eigene Dienstleistungsbranche darauf spezialisiert hat, Webseiten für Google zu optimieren. Gretchen Andrew treibt diesen Irrsinn in gewisser Weise auf die Spitze und hat wiederum daraus eine eigene Kunstgattung kreiert. Sie ist selbst ernannte Suchmaschinenkünstlerin. Tippt man beispielsweise „The next American president“ in die Google-Suchleiste, erscheinen neben den Fotos von Donald Trump und Joe Biden die in blau-weiß und schwarz-weiß gehaltenen Collagen von Andrew. Und diese haben nur wenig mit den beiden Politikern gemein. Eine Collage zieren neben Schmetterlingen, Blumen und Muscheln drei verschiedene Vasen mit den Schriftzügen „Love“ und „Open“ sowie einem Peace-Zeichen. Andrews Wünsche und Hoffnung an den neuen US-amerikanischen Präsidenten.

Sie führt damit den berühmtesten unter den Algorithmen vor, die immer tiefer in unser Leben eingedrungen sind und unseren Alltag stärker denn je bestimmen. Sie schlagen uns die zur Stimmung passende Playlist im Streamingdienst vor, warnen uns vor schlechtem Wetter. Aber sie rufen auf Buchungsplattformen auch genau dann die höchsten Preise für Hotelzimmer auf, wenn wir am dringendsten eines brauchen. Und zeigen uns auf allen möglichen Webseiten immer wieder eine Anzeige für Turnschuhe, die wir längst bei Zalando bestellt haben.

Andrews Kunst nun beweist, das nicht nur die Algorithmen die Menschen austricksen können – das Spiel funktioniert auch umgekehrt. Denn manches, was für den Menschen spielend leicht ist, ist für die Maschine sehr kompliziert. Wir erkennen sofort, dass Andrews Gemälde keinesfalls einen Präsidentschaftskandidaten zeigen, Googles Suchalgorithmus nicht. Genau dies will Andrew mit ihrer Kunst verdeutlichen: Dass das Internet und seine Suchmaschinen nicht so schlau sind, wie wir es gerne glauben wollen. Und wir ihnen deshalb nicht so kritiklos vertrauen sollten, wie wir es zumeist tun. „Wenn ich den Suchalgorithmus mit meinen Werken manipuliere, ist das für jeden Menschen offensichtlich.

“Dauert länger als eine Collage”

Am Anfang funktionierten Suchalgorithmen noch recht simpel und nachvollziehbar: Es zählte allein, wie häufig ein Suchbegriff auf einer Webseite auftauchte. Mit weißer Schrift auf weißem Grund konnten Internetseiten so schnell in den oberen Suchergebnissen auftauchen. Mittlerweile sind die Algorithmen komplexer. Sie listen Webseiten umso höher auf, je mehr andere Seiten auf diese verlinken, wenn ein Text zusammengehörende und für Menschen verständliche Informationen enthält und je länger Nutzer auf einer Seite bleiben. Google passt seinen Algorithmus sogar regelmäßig an, um Manipulationen zu erschweren – ohne dabei Details zu verraten.

„Ich habe eher das Gefühl, dass der Algorithmus dümmer und nicht schlauer wird“, sagt dagegen Andrew. Um diesen zu „hypnotisieren“, wie sie es nennt, sucht sie im Internet nach Webseiten, auf denen sie eigene Profile zu ihren Projekten anlegen kann, so wie beim sozialen Netzwerk Pinterest oder dem Empfehlungsportal Yelp.

Dort verlinkt sie ihre Projektseiten und aktualisiert die Profile regelmäßig, indem sie ihre Kunstwerke erst nach und nach hochlädt. Allerdings meist in einer für einen Künstler ärgerlich niedrigen Auflösung. All das belohnt der Suchalgorithmus. Bei der Formulierung der begleitenden Texte orientiert sie sich an den Schlagworten der bisher bei Google oben gelisteten Ergebnisse. „Das alles dauert teilweise länger als die Collagen zu kreieren“, sagt sie. 

Traumjob bei Google

Programmieren, zu verstehen wie ein Algorithmus funktioniert, all das lernte Andrew von ihrem Vater, der selbst ein Technologieunternehmen besitzt. „Bei uns gab es nie diese Denkweise: Männer arbeiten mit Computern, und Frauen beschäftigen sich mit Kunst.“ Nach einem Studium an der Schnittstelle zwischen Informatik und Management am Boston College startete Andrew ihre Karriere in der Softwarebranche. Sie arbeitete sogar zwei Jahre bei Google. „Mein Traumjob zur damaligen Zeit“, sagt sie. So habe sie die Silicon-Valley-Kultur erleben, ihren Studienkredit abbezahlen und genau das anwenden können, was sie im Studium gelernt hatte: Informationen so einzusetzen, dass sie einen Wettbewerbsvorteil bringen. Tiefe Einblicke in die Geheimnisse des Algorithmus hinter der Suchmaschine bekam sie allerdings nicht.

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