Stine Deja’s work is featured in the article Digital. Virtuell. Posthuman? by Magdalena Kröner (article in German).
Digital. Virtuell. Posthuman?
By Magdalena Kröner
WIE SIEHT DIE ZUKUNFT DES MENSCHEN AUS?
Die Zukunft ist jung und alt, ethnisch divers, sie hat schöne Zähne und ein ebenmäßiges Gesicht. Sie ist die ältere Dame mit der Brille und den wachen Augen. Der junge Mann mit dem leichten Bartan- satz und den kräftigen Augenbrauen. Das neugieri- ge Baby. Die Blondine mit den tollen Haaren. Das schwarze Mädchen, das entschlossen in die Ferne schaut. Die Zukunft kommt zu uns in allen nur denkbaren Gesichtsformen, Ethnien und Altersklas- sen, aber auch in jeder nur denkbaren Stimmung und Verfassung – und sie ist komplett virtuell. Die amerikanische Firma „Generated Photos“ produziert Portraits von Menschen, die nie existiert haben, und vielleicht schon bald reale Modelle und Schauspieler ablösen könnten. Die verblüffend realistischen Fotos sind das Produkt digitaler Bilderzeugung, virtueller Technologie und Deep Learning. 100.000 Gesichter haben die Ingenieure, Programmierer, Fotografen und Bildbearbeitungsspezialisten von „Generated Photos“ zum Download und zur freien Verwendung ins Netz gestellt – umsonst.
Es ist nicht mehr zu übersehen: die Zukunft ist digital. Zwischen dystopischer Technologiefurcht und utopischer Technologiebegeisterung existieren im öffentlichen Diskurs gegenwärtig alle Spielarten der Imagination – und genau ins Zentrum dieser Imagination begeben sich die Künstler, die in die- sem Band versammelt sind.
Sie analysieren, illustrieren und kommentieren den aktuellen Siegeszug von Bits und Maschinen. Sie befragen die umfassende Veränderung unseres Lebens, die sich gerade ereignet. Sie schaffen Bilder zur Virtualisierung des Lebens, die uns berühren, aufregen, faszinieren und beunruhigen. Sie sind in der Lage, jenseits kryptischer Funktionsweisen von Technologie und der Komplexität politischer Gemengelagen sowie historischer und gesellschaft- licher Konzepte, innerhalb derer die Digitalisierung gegenwärtig diskutiert wird, mit neuartigen Bildern und Erzählungen unmittelbar an die menschlichen Rezeptoren anzudocken, die auch nach Millionen von Jahren menschlichen Lebens immer noch dort sitzen, wo wir fühlen, riechen, sehen, hören können. Auch inmitten der tiefgreifenden Veränderungen unserer Welt ist der menschliche Körper nach wie vor die zentrale Matrix, in die sich die gegenwärtig in der Kunst entstehenden, neuartigen Erregungswerte einschreiben.
Während wir uns bisheriger Begrenzungen von Geographie, Geschlecht und Tradition zunehmend entledigen, erleben wir ungeahnte Neudefinitionen und Aktualisierungen des Körperlichen als Ober- fläche kultureller Bedeutungszuschreibung. Überall entstehen gegenwärtig neue Körpermodelle und -Ausprägungen; innovative, digitale Phantasien, wel- che in einem fluiden Kontinuum zwischen Männlich und Weiblich entstehen und andersartige Definition dessen hinzufügen, was wir bislang unter Individua- lität oder Geschlechtsidentität verstanden haben. Die an die Physis gebundenen Phantasmen verkörpern im Wortsinn die Essenz; die Werte, Normen und das Abseitige der jeweilig vorherrschenden Kultur.
Auch inmitten der tiefgreifenden Veränderungen unserer Welt
ist der menschliche Körper nach wie vor die zentrale Matrix, in die sich die gegenwärtig in der Kunst entstehenden, neuartigen Erregungswerte einschreiben.
Dieser Band befasst sich weniger mit dem bionischen, technologisch optimierten, hochgerüsteten Körper, nicht mit dem Menschen als Fehlstelle, dem mittels Prothetik und biotechnologischer Optimierung der lang ersehnte Schritt in Richtung Unsterblichkeit gelingt, sondern mit jenen „Paral- lelkörpern“ – Avataren, Androiden und digitalen Doppelgängern, die dem Menschen gegenwärtig von Künstlern an die Seite gestellt werden.
BIG DATA:
BEQUEMLICHKEIT UND ÜBERWACHUNG
Wohin man auch schaut: das Verhältnis von Mensch und Maschine ändert sich gerade grundlegend. Die Maschinen kommen uns immer näher; sie schleichen sich in unser Leben und kriechen uns unter die Haut. Schon jetzt erkennen unsere Telefone, wenn wir sie berühren, wer wir sind. Schon jetzt stehen in immer mehr Wohnzimmerregalen metallene Dosen mit freundlichen Frauennamen wie „Alexa“, die jedes Gespräch belauschen und sofort reagieren, wenn man etwas braucht. Digitale Technologie wird mittlerweile wie selbstverständlich dafür genutzt, Beziehungen anzubahnen oder Sex zu haben, für Teilhabe an der Welt zu sorgen oder aber dafür, dass ebendiese Welt draußen bleibt, wenn sie zu ungemütlich wird. Dass wir für all die Erheiterung, Ablenkung und Erleichterung unseres Lebens, die wir vermittels digitaler Anwendungen scheinbar umsonst bekommen, bezahlen, und zwar mit einer Masse unschätzbar wertvoller Daten, wird von den meisten gern vergessen.
Das führt zur Konzentration von Macht einiger weniger, kommerziell operierender Anbieter, denen wir freiwillig jede Art von persönlicher Information überlassen: Facebook, WhatsApp, Google, etc. Vor diesem Hintergrund klingt es zugleich wie ein Eu- phemismus und wie eine Drohung, was Facebook- Gründer Mark Zuckerberg einmal sagte: „In a lot of ways Facebook is more like a government than a traditional company. We have this large community of people, and more than other technology companies we’re really setting policies.“
Auf ihren glatten, schillernden Oberflächen sieht alles, was die Digitalisierung verspricht, neu und extrem unterhaltsam aus. Einer der größten Web- Hits des Jahres 2019 war „Gradient“, die im Herbst Platz 1 der am häufigsten heruntergeladenen Apps4 besetzte. „Gradient“ verwandelt das eigene Antlitz in ein paar Schritten in das eines Prominenten, was auf nichts Anderem als auf schneller und effektiver Gesichtserkennung basiert. So ähnlich funktioniert auch eine Anwendung auf Googles „Arts and Culture“-App, die das Gesicht des Users mit Bildern aus einer Datenbank mit Kunstwerken abgleicht, um etwa zufällige Ähnlichkeiten von heute leben- den Personen mit Figuren in historischen Gemälden aufzuspüren. Da macht die auffällige Ähnlichkeit des eigenen Gesichtes mit einer Dame der italieni- schen Renaissance oder einem Helden der Pop-Art so viel Spaß, dass man gar nicht mehr weiter dar- über nachdenkt, dass die Anbieter einfach verspre- chen, das eigene Portrait weder zu speichern noch zu anderen Zwecken zu nutzen als in der jeweiligen App. Dem User bleibt nichts anderes übrig, als dieser Aussage zu glauben.
Algorithmisch gesteuerte Prozesse und digitale Anwendungen für künstliche Intelligenz durchwirken bereits jetzt an immer mehr Stellen unseren Alltag und unser Erleben: bei vielen kommerziellen Transaktionen sind digitale Assistenten im Einsatz. Chatbots werden von Firmen benutzt, um Anfragen von Verbrauchern zu beantworten, übernehmen aber beispielsweise auch die Kommunikation viel- beschäftigter Stars mit ihren Fans. Scheinbar kostenlose Dienstleistungen, harmlose Apps und hilfreiche Anwendungen verschleiern, was sie eigentlich sind: benutzerfreundlich getarnte Werkzeuge für das massenhafte Sammeln und kommerzielle Verwerten persönlichster Informationen über jeden einzelnen User. Sie verschleiern außerdem die Möglichkeit po- litischer Instrumentalisierung von „Big Data“, die an anderer Stelle der Welt längst Realität geworden ist und genutzt wird, um umfassende gesellschaftliche Kontrolle und Restriktion auszuüben.
In Indien etwa existiert seit dem Jahr 2009 das sogenannte „Aadhaar-Programm“. „Aadhaar“ ist Hindi und bedeutet so viel wie „Grundlage“. In den zehn Jahren seines Bestehens wurden mit dem Datenerfassungs-Programm 99 Prozent der erwach- senen Bevölkerung des Landes biometrisch erfasst: 1,2 Milliarden Menschen. Unter einer individuell vergebenen Aadhaar-Nummer werden die unver- wechselbaren Merkmale eines Menschen wie seine Fingerabdrücke und ein Retina-Scan gespeichert, angeblich, um den Missbrauch staatlicher Lebens- mittelkarten für die Ärmsten zu verhindern. Schon jetzt braucht jeder Inder eine Aadhaar-Nummer, um eine Bar zu besuchen, einen Job zu bekommen, oder zu heiraten. Ohne Aadhaar-Nummer gibt es kein Bankkonto, keine Kreditkarte und keine Telefon- nummer. Datenschützer kritisieren das Programm als totalitär und sehen Indien auf dem Weg zum Überwachungsstaat.
In China hingegen wird die digitale Massener- fassung unmittelbar an menschliches Verhalten ge – koppelt und als effektives Mittel sozialer Kontrolle eingesetzt. Das euphemistisch betitelte „Sozialkredit- system“ ermöglicht es den Anwohnern der ostchine- sischen Stadt Rongcheng bereits seit 2014, Punkte für gutes Betragen zu sammeln: soziales Engagement und Zuverlässigkeit im Berufsleben bringen Plus- punkte, aber wer bei Rot über die Straße fährt oder öffentlich in eine Schlägerei verwickelt wird, muß mit Abzügen rechnen. Wie in Indien gilt: die Höhe des Punktestandes ermöglicht oder verhindert eine Beförderung, den Zugang zu bestimmten Schulen, oder den Abschluss einer Versicherung. Bis zum Jahr 2020 soll das Pilotprojekt landesweit installiert sein. Damit hätte die Kommunistische Partei die moralische und soziale Kontrolle über 1,4 Milliar- den Chinesen, ganz der von Chinas Staatspräsident Xi Jinping formulierten Doktrin der „harmonischen Gesellschaft“ entsprechend.
Programme wie das indische Aadhaar oder das chinesische Sozialkreditsystem sind die Zukunft durch Big Data, digitaler Erfassung und algorith- mischer Steuerung ermöglichter, gesellschaftlicher Sanktionsmechanismen, über die all jene, die mög- lichen Bedenken mit lapidaren Sprüchen begegnen wie „Wir sind doch längst gläsern“ oder „Ich habe nichts zu verbergen“, vielleicht einmal kurz nach- denken sollten.
DIGITALISIERUNG: COMPUTATIONAL DESIGN UND EXPERIENTAL CONSUMPTION
In Europa jedoch, so scheint es, ist für solche Be- denken, schaut man sich in den derzeit öffentlich geführten Diskursen oder den Slogans auf großen Messen der Industrie um, kaum Platz. Gerade in Deutschland herrscht offenbar eine Mischung aus Euphorie und Angst vor dem Zu-Kurz-Kommen vor. Die meisten, die etwas zu verkaufen haben, jubeln gegenwärtig über die neuen kommerziellen Möglichkeiten, welche die Digitalisierung ahnen lässt. Bosch-Chef Volkmar Denner verkündet mit deutlicher Vorfreude: „In zehn Jahren wird es kaum noch ein Bosch-Produkt ohne Bezug zu künstlicher Intelligenz geben. Die Automobilindustrie zeigt sich angesichts der Diesel-Krise berauscht von der Idee des elektrischen, virtuell gestützten, selbstfahrenden Autos, während immer mehr Modehersteller Algorithmen nutzen, um genau die Klamotten her- zustellen, die ihre Kunden kaufen wollen. Nike etwa hat mit Hilfe von „Computational Design“ einen Laufschuh entwickelt, dessen Form auf algorithmen- gestützten Informationen über den menschlichen Fortbewegungsapparat beruht. Jeder Läufer wird also künftig einen Schuh tragen können, der ganz auf seine individuelle Physis und sein Laufverhalten abgestimmt ist.
Die Branchenzeitung „Werben und Verkaufen“ nennt die neue Hoffnung für den von Online- Bestellungen gebeutelten Einzelhandel „Experi- ental Consumption“ und liefert die Erklärung für die angebliche neue Liebe zum Einkaufserlebnis gleich mit: „Spannende Erlebnisse entwickeln sich aktuell zu einer neuen Währung, denn nur Erlebnisse liefern teilbaren Content für Millionen Social-Network-Nutzer.“
Andere denken da schon sehr viel weiter, was die Nutzung digitaler Technologie zum Vorteil der menschlichen Spezies angeht. Im Jahr 2005 stellte Google-Chefentwickler und Transhumanist Ray Kurzweil, einer der euphorischsten Vordenker des „Body 2.0“8 die These auf, dass die Menschheit mit Hilfe von Biotechnologie und künstlicher Intelli- genz ihre biologischen Grenzen, also Verfall und Tod des Körpers, im Jahr 2045 überwunden haben wird.
Kurzweil scheint in seinem Glauben an die mo- derne Technologie ein Nachfolger des italienischen Dichters und Begründers des Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti zu sein, der bereits 1912 in sei- nem „Technischen Manifest der futuristischen Literatur“ phantasierte: „…nach dem Reich der Lebewesen beginnt das Reich der Maschinen … bereiten wir die Schöpfung des MECHANISCHEN MEN- SCHEN MIT ERSATZTEILEN vor Marinetti schrieb weiter „Es gilt daher, die un- mittelbar bevorstehende Identifikation des Men- schen mit der Maschine vorzubereiten, indem man einen ununterbrochenen Austausch von Intuition, Rhythmus, Instinkt und metallischer Disziplin er- leichtert und vollendet, wovon die Mehrheit noch keinerlei Begriff hat und nur die erleuchtetsten Köp- fe etwas ahnen.“
Ein Blick auf die Transhumanisten von heute zeigt, welch prophetische Qualität die Aussagen des Futurismus-Begründers besitzen. Leute wie Kurz- weil träumen von einer eine Art kybernetischer Erweiterung des Menschen ins Technologische hin- ein; welcher, aufgerüstet mit künstlicher Intelligenz unterwegs ist in eine lange ersehnte Unsterblichkeit. Die Verbindung von Mensch und Maschine wird längst auch im Alltag greifbarer: Operationen wer- den längst durch Roboter [03] gestützt; robotische Exoskelette [02] werden in Krankenhäusern zur Re- habilitation eingesetzt, in der Industrie unterstützen sie kraftintenisves Arbeiten – ein boomender Markt.
AM BEGINN DER MODERNE:
DER TRAUM VON DER MASCHINE
Das kollektive Träumen von einer Verbindung aus Mensch und Maschine begann vor gut 100 Jahren und markiert den Beginn der Moderne. Die aufkommenden Phantasien eines beschleunigten, „montierten Menschen“ waren sowohl eine Reaktion auf die aufkommende Industrialisierung als auch auf das Trauma des Ersten Weltkrieges. Im Jahr 1917 be- nannte Sigmund Freud das Grundgefühl einer durch den ersten Weltkrieg erschütterten Gesellschaft mit dem Begriff des „zerstückelten Körpers“, der von der Kunsthistorikerin Linda Nochlin13 als Betrachtungsmodus in die Kunstgeschichte eingeführt wur- de. Mit Entwicklung der Psychoanalyse rückte die Gespaltenheit des Menschen auch als körperliches Symptom in den öffentlichen Diskurs: körperlich manifeste Neurosen, Unbewusstes, Triebe und Feti- sche rückten in den Blickwinkel wissenschaftlicher und künstlerischer Betrachtung. Die Surrealisten erkannten als Erste die symbolische Macht des frag- mentierten Körpers und inszenierten diese etwa im rituellen Zerschneiden eines menschlichen Auges im Skandalwerk „Un Chien Andalou“.
Virilio entwarf das Zerrbild eines stillgelegten Körpers, und schilderte das ständige Online- Sein als einzige Existenzform in einem nie endenden, extrem beschleunigten Datenstrom. Mit dem Aufkommen digitaler Medien in den aus- gehenden 1980er Jahren wurden die Ideen des Menschen als Spielball disruptiver Kräfte technologischer Beschleunigung von den Poststrukturalisten weiter- gedacht. Vielleicht hatte der französische Philosoph Paul Virilio also bereits damals Recht, der in seinem berühmten Essay „Der rasende Stillstand“ behaupte- te, wir seien längst zu Hüllen unseres Selbst gewor- den; zu digitalen Interfaces statt atmender Präsenz. An die Stelle der realen physischen Existenz sollte das treten, was Virilio mediatische Nähe nannte. Er entwarf das Zerrbild eines stillgelegten Körpers, und schilderte das ständige Online-Sein als einzige Existenzform in einem nie endenden, extrem be- schleunigten Datenstrom. Das klingt auch im Jahr 2019 nach Science-Fiction, aber: vielleicht sind wir ja wirklich auf dem Weg in eine bequem im Liegen verbrachte Zukunft, in der wir von unseren Daten- Sarkophagen aus in eine digitale Welt schauen, und dabei den eigenen Körper nicht nur nicht mehr spü- ren, sondern irgendwann auch nicht mehr brauchen?
In der Body Art ab den 1970er Jahren war das Auftauchen der Physis vor allem politisch moti- viert: es ging um Präsenz und Teilhabe von Frauen in Gesellschaft und Kunstbetrieb. Die 1970er und 1980er Jahre waren geprägt von vorwiegend weib- lichen künstlerischen Neuverhandlungen des Körpers; von den essentialistischen Körperperformances von Künstlerinnen wie Ana Mendieta, Carolee Schneemann oder Gina Pane. In den 1980er Jahren wurden postmodern-konzeptuelle Neuerfindungen des Selbst von Künstlerinnen wie Cindy Sherman durchgespielt, während die dysmorphischen Verklei- dungen des britischen Performancekünstlers Leigh Bowery von den Clubs in die Kunstszene diffundier- ten. In den 1990ern reflektierten Künstler die von den Poststrukturalisten gestellten, neuartigen Fragen zur technischen Machbarkeit, die das grundlegend veränderte Verhältnis von Maschinen und Körpern, auf das wir uns zubewegen, vorbereiten sollte. Es entstanden die ersten digitalen Bildphantasien von Künstlern wie Inez van Lamsweerde oder Aziz + Cucher. In den Nullerjahren dann stellte Vanessa Beecroft echte, nackte Performer in den White Cube.
CYBORGS UND WUNDERMASCHINEN
Einer der visionärsten und bis heute wichtigsten Texte zum Mensch-Maschine Komplex und dessen zukünftigen Implikationen wurde im Jahr 1985 von der amerikanischen Feminismus-Theoretikerin und Biologin Donna Haraway geschrieben: „A Cyborg Manifesto“, in dem sie den Cyborg als Organismus der Zukunft imaginierte: „The cyborg is a kind of disassembled and reassembled, postmodern col- lective and personal self.“ Heute beschäftigt sich Haraway mit dem, wie sie es nennt, „Chthuluzän“, einem Zeitalter, in dem die Grenzen zwischen Men- schen, Maschinen und anderen Lebewesen durch- lässig werden und das Bewusstsein dafür, was eine Art definiert, sich in eine Vielzahl technologisch- biologischer Neuschöpfungen hinein aufgelöst haben wird.
Im Moment allerdings erobern die Maschinen weniger den menschlichen Körper als erst einmal die Dinge um uns herum: Industrie 4.0 heißt das Zauberwort, das die technologische Aufrüstung beschreibt, die gegenwärtig in Fabriken, Lager- hallen und Werkstätten stattfindet. Wie schon zu Beginn der Industrialisierung nehmen Maschinen dem Menschen schwere und gesundheitsschädliche Arbeiten ab. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass man dieser Tage einen Bericht liest wie „L 26 über- nimmt“. „L 26“ ist eine von deutschen Ingenieuren erdachte Laser-Blechschneidemaschine, die von der Zeitschrift „Stern“ gepriesen wird als „…Wunder- maschine aus Stahl und Software… ein perfektes Beispiel für die Chancen der Digitalisierung16 und sorgt sich um seinen Arbeitsplatz. Kurz danach sieht man vielleicht einen TV-Bericht, der die Be- mühungen eines Großhändlers wie Amazon zeigt, Roboter für das Suchen, Auswählen und Verpacken unterschiedlicher Produkte einzusetzen, und sieht, dass der Roboter schon mit etwas scheinbar Einfa- chem wie „einen Gegenstand aus dem Regal neh- men“ so seine Schwierigkeiten hat und denkt sich: wird schon alles nicht so schlimm werden.
MEDIENNUTZUNG:
WER BRAUCHT NOCH BÜCHER?
Es braucht nicht viel Phantasie, um die aktuellen Entwicklungen weiterzudenken: immer mehr For- men von Information, politischer Orientierung, Meinungsbildung und kritischem Diskurs werden künftig von algorithmischen Prozessen gesteuert werden. Die Veränderungen sind tiefgreifend.
Schaut man sich die jüngsten Studien zur Ent- wicklung der Nachrichtennutzung an, die etwa das amerikanische Meinungsforschungsinstitut „Pew Research Center“ in Washington oder das in Oxford ansässige „Reuters Institute for the Study of Journalism“ herausgegeben haben, wird deutlich: die Nachrichtennutzung vermittels Onlinemedien wie Facebook und Twitter nimmt durch alle Altersgruppen hinweg zu. Die steigenden Zahlen zur On- linenutzung aus den USA geben den Trend auch für Deutschland vor: im Jahr 2015 nutzten 63 % aller befragten Amerikaner Facebook und Twitter zur Infor- mation, während es im Jahr 2013 noch 49,5 % waren.19 Eine Nielsen-Studie vom August 2018 wies nach, dass amerikanische Erwachsene mehr als 11 Stunden täglich mit der Nutzung unterschiedlicher Medien verbrachten. Noch 2014 lag diese Zahl bei 9 Stun- den und 32 Minuten.20 Noch ist die Mediennutzung in Deutschland konservativer: nach wie vor scheint das Fernsehen für alle Altersgruppen die wichtigste Nachrichtenquelle zu sein: 78 % gaben an, regelmä- ßig fernzusehen. Für die Altersgruppe ab 35 ist das Fernsehen gar das Hauptnachrichtenmedium; für die „Millenials“ jedoch, also der zwischen 1980 und 2000 geborenen Generation, sind Onlinemedien die wichtigste Nachrichtenquelle. 51 % dieser Alters- gruppe nutzten im Jahr 2017 für ihren Nachrichten- konsum hauptsächlich Online-Medien. Auch ein Blick auf die einbrechenden Umsätze auf dem deut- schen Buchmarkt zeigt, welche Veränderung sich gerade bei der Mediennutzung vollzieht: im Jahr 2016 kauften von knapp 83 Millionen Deutschen nurmehr 30,8 Millionen ein Buch – der niedrigste Stand seit fünf Jahren. Von 2012 bis 2016 verlor der deutsche Buchhandel 6,1 Millionen Käufer. Noch im Jahr 2007 kauften 49 % aller Deutschen ein Buch.
Der amerikanische Journalist Franklin Foer hat mit dem Buch „World Without Mind: The Existen- tial Threat of Big Data“23 eine komplexe Untersu- chung vorgelegt, die nachweist, wie die Struktur moderner algorithmischer Systeme und ihre An- wendung auf immer mehr Bereiche des alltäglichen Lebens in letzter Konsequenz Pluralität verhindert und welche Vielzahl an Gefahren von den „Mono- polisten des Geistes“ wie Amazon, Facebook und Google ausgeht.
KÜNSTLER ALS FORSCHER IM DIGITALEN
Zwischen Fakten und Fake News, privaten, öffentli- chen und politischen Diskursen operiert die Kunst und besetzt eigene Nischen. In Ateliers weltweit denken Künstler über jene neuen Wesen nach, die uns vielleicht einmal ersetzen könnten. Sie entwi- ckeln bildmächtige Phantasien zu jenen digitalen Prozessen, die unser Leben grundlegend verändern. Viele Künstler arbeiten gegenwärtig wie Ingenieure und Forscher: sie nutzen Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Virtualität, um sich Bilder auszu- denken, die wir instinktiv verstehen, auch wenn wir nur eine vage Ahnung davon haben, was „Big Data“ eigentlich genau bedeutet. Sie erfinden unablässig neue, hochauflösende Bilder für das Vage, das gerade erst im entstehen Begriffene des digitalen Wandels. Vor 40 Jahren wurde der Körper in Kunst und All- tag als Medium im politischen Kampf um Gleichbe- rechtigung eingesetzt, thematisiert – nun geht es um die Definitionsmacht dessen, was wir als „mensch- lich“ bezeichnen. Was verstehen wir darunter? Wie verändert die Vielfalt digitaler Figuren und neuer, dem Menschen an die Seite gegebener Stellvertreter unsere Selbstwahrnehmung?
Viele Künstler arbeiten gegenwärtig wie Ingenieure und Forscher: sie nutzen Algorithmen, künstliche Intelligenz und Virtualität.
Die gegenwärtig überall zu beobachtende Ver- schmelzung von digitaler Technologie mit Konsum, Alltag, mit Ästhetik und Kunstpraxis hat es so noch nie gegeben. Forschung, Technologie und individu- elle Lebensführung sind noch nie auf solch intrin- sische und gleichzeitig flexible Weise miteinander verbunden gewesen wie jetzt. Die Neuerungen des digitalen Zeitalters – Nanomaschinen, kybernetische Körpererweiterungen, virtuelle Identitätsverdopp- lung und Spiegelung – all das verändert und öffnet den Bezugsrahmen „Kunst“ gerade grundlegend.
In Galerien und Museen wimmelt es neuerdings vor menschlichen Stellvertretern: Roboter, Repli- kanten und digitale Wiedergänger stellen unsere Identität und Individualität in Frage. Sie zeigen uns, dass das, was uns als Menschen ausmacht, sich gerade grundlegend verändert. Zwischen Prothesenphanta- sien24, Transhumanismus und posthumanistischer Dystopie operiert die Kunst der neuen digitalen Verkörperungen.
MENSCH-MASCHINEN
1928, ein Jahr nachdem der Maschinen-Mensch „Maria“ in Fritz Langs Film „Metropolis“ für Aufsehen sorgte, präsentierten ein paar ambitionierte Erfinder auf der Ausstellung der britischen „Engineering Model Society“ dem erstaunten Publikum den humanoiden Roboter „Eric“. Die unförmige Blechpuppe saß auf einem Stuhl auf einer Bühne, erhob sich auf Kommando, schlackerte ein bißchen mit zwei ble- chernen Armen und sprach ein paar Worte. Heute sitzt der Android der Künstlerin Goshka Macuga [03] entspannt im Ausstellungsraum und erzählt dem Betrachter eindringlich und verblüffend lebendig von dem, was die Welt im Inneren zusammenhält. Er gestikuliert und scheint sein Gegenüber anzuschau- en. Jordan Wolfson führt mit „Female Figure“ und „Colored Sculpture“ vor, dass Verführung und Empathie nicht mehr an etwas eindeutig Menschli- ches gebunden sein muß.
Das Andersartige dieser Replikanten macht sie so wirkungsvoll: sie führen ganz plastisch jene Ver- änderungen vor, die uns künftig erwarten könnten: das Verschmelzen der Maschinen mit unseren Kör- pern, an dem die Ingenieure des Transhumanismus arbeiten. Die Übernahme der Maschinen, welche die Posthumanisten beschwören, die über jene Zeit nachdenken, in welcher der Mensch im Zentrum der Kultur abgetreten und von künstlicher Intelli- genz ersetzt sein wird. Beides wird mehr und mehr Teil der Realität. Und es sind Protagonisten, wie sie etwa die hier genannten Künstler schaffen, die uns auf diese Realität vorbereiten. Wie wollen wir in Zukunft lieben, arbeiten, uns vergnügen, kom- munizieren? Die Replikanten und Avatare, die sich junge Künstler auf der ganzen Welt gerade ausden- ken, stellen drängende Fragen zum Menschsein und schlagen neue Alternativen vor.
Gegenwärtig werden viele dieser irgendwann ein- mal radikal erscheinenden Phantasien Realität und vor dieser Folie wird der Körper gerade erneut zum zentralen Medium politischen Embodiments und ästhetischer Bewußtwerdung: in ihm bündeln sich die divergierenden Kräfte einer Gesellschaft im Wandel.
Zahlreiche Künstler schaffen gegenwärtig menschliche Verkörperungen im Digitalen als Abbilder und Zerrbilder gesamtgesellschaftlicher Prozesse, so etwa Joey Holder [05] mit ihren Ana- lysen politischer Demagogie und Manipulation oder Zach Blas’ Untersuchungen der Schnittstellen vom privaten zu öffentlichen Körpern. Beide stellen vermittels des Körpers eindringliche Fragen zum diskriminierenden Potential moderner Tech- nologie. Künstler wie Holder und Blas zeigen, wie selbstverständlich politisches Engagement und ak- tivistisch engagierte Aufklärung heute als integra- ler Teil der künstlerischen Praxis integriert werden. Der Körper dient auch hier als universelles Medium des kollektiven Unbewussten; als unmittelbarste Projektionsfläche der Phantasmen und Dystopien von Jetztzeit und Zukunft. Der Körper bündelt und kanalisiert die gemeinschaftlichen Phantasien davon, was ein Mensch sei und was ihn ausmache – und was nicht.
ÖFFENTLICHE KÖRPER
Die neuen Kategorien öffentlicher körperlicher Identität, wie sie etwa von Politikern und Aktivis- ten, Künstlern, Schauspielern, Sportlern und Mo- dels vorgelebt werden, scheinen sich parallel zu den digitalen Bildern in stetem Wandel zu befinden. Hybride, durchlässig und elastisch, inspiriert das Zusammenspiel aus Virtualität, künstlicher Intelligenz und digitalen Plattformen ein neuartiges Erleben und Darstellen nicht nur politischer Haltung und kritischen Bewußtseins, sondern ebenso von Identität, Gender, Sexualität.
Queere Positionen öffnen die gesellschaftliche Wahrnehmung und Akzeptanz für neue, uneindeuti- gere Formen von Identität und Gender. Das, was sich in der Kunst als Verflüssigung von Kategorien, dem Aufweichen von Genregrenzen und dem Entstehen eines neuen, transitorischen Werkbegriffs zeigt, ist un- mittelbar an die Entwicklung der digitalen Techno- logien der letzten zwei Dekaden gekoppelt. Erstmals wird auch die digitale Bildgenese als Teil des künst- lerischen Prozesses sichtbar gemacht; etwa wenn die Netzkünstlerin, Illustratorin und CGI-Designerin
Nicole Ruggiero sich in zahllosen Einzelschritten einen Avatar ihrer selbst generiert [07], der im Netz unterwegs ist und dort gängige Erwartungen an weibliche Identität unterläuft. Künstlerinnen wie Ruggiero, die sich nur bedingt als „bildende Künstle- rin“ eingeordnet wissen will, schaffen Beispiele fluider Identitäten und einer elastischen Stofflichkeit des digitalen Bildes. Die Untersuchungen zu den Tabus von Weiblichkeit im pornographischen Mainstream einer Künstlerin wie Sidsel Meineche Hansen wiederum verdeutlichen, wie wichtig die Erweiterung des Blicks auf alternative Formen von Identität ist; wird doch das sichtbare, alltägliche, digitale Leben immer noch von überwiegend weißen, männlichen, westlich ge- prägten, kommerzialisierten Erzählungen bevölkert.
KÜNSTLERSEIN AUF SOCIAL MEDIA
Und selbst digitale Influencer-Figuren wie Lil Wavi, Shudu oder Miquela, eigentlich für kommerzielle Zwecke geschaffen, scheinen geeignet, die Hegemonie kulturell dominierender Erzählun- gen zumindest marginal aufzubrechen. Auf Insta- gram treffen sie auf User, denen es in ihrer Bewunde- rung für diese Avatare ziemlich egal ist, ob es sich um Menschen oder um digitale Erfindungen handelt – im Gegenteil, die Ambivalenz der virtuellen Protago- nisten verstärkt den Hype um sie nur noch. Nicht zuletzt müssen sie jedoch auch als ästhetische Ge- genwartsphänomene betrachtet werden, die uns auf die künftige Interaktion mit künstlicher Intelligenz vorbereiten, und den Grusel des Unheimlichen mil- dern sollen. Zugleich markieren solche Figuren einen
Anfang: sie sind erste Modelle eines neuen Sehens, die auf eine veränderte, erweiterte Wahrnehmung von Identität, Ethnie, Geschlecht deuten können.
Künftig werden sich die digital verflüssigten, zwischen Realität und Fiktion fließenden Bilder, an die wir uns gegenwärtig gewöhnen, auf weitere Formen von Identität – real und virtuell – übergrei- fen; zwischen Männlich und Weiblich, zwischen Mensch, Maschine, Tier, Mikroorganismus. Die Grenzen zwischen Virtual Reality und Augmented Reality, CGI und Realität, zwischen Computerspiel und Film, zwischen Leben und Screen verwischen schon jetzt immer mehr.
Das nutzen Künstler, die mit den Mechanismen von Hype und Aufmerksamkeit spielen und diese als Grundwährung ihrer künstlerischen Praxis nutzen, die sich vorwiegend auf Social Media konzentriert. Andy Kassier und Amalia Ulman etwa konstruieren auf Instagram in zahllosen Selfies ein fiktives Selbst, das den Betrachter auf nichts als seine eigenen Erwartungen und Projektionen zurückwirft.
Künstler wie Olga Fedorova oder das franko- belgische Duo Geriko spielen mit den zahllosen Effekten und Gestaltungsmöglichkeiten der Oberflächen digitaler Bilder und konstruieren daraus transgressive, surreale Panoramen, während ein Künstler wie Jon Rafman einen Deep Dive zu den Subkulturen im Netz macht und mit alptraumhaften Bildern an die Oberfläche des Bewußtseins zurückkehrt.
Künstlerinnen wie Avery Singer oder Vivian Gre- ven nutzen wiederum digitale Medien, Werkzeuge und Ästhetik, um der Malerei völlig neue Facetten hinzuzufügen und bislang ungesehene Abbilder des Körpers zu schaffen.
MEAT MACHINES
Sie alle fragen: Wer sind wir künftig als Mensch? Sind wir nurmehr „meat machines“, Fleischmaschinen26, wie der 2016 gestorbene Pionier der künstlichen In- telligenz, Marvin Minsky, es nannte? Künstler wie die hier versammelten erfinden digitale und virtuel- le Körper, die alternative Antworten auf Fragen nach der Essenz des Menschen geben: Stine Dejas hybride, technologisch optimierte Zukunftsanatomien, Ed Atkins Animations-Prototypen mit ihren sehr menschlichen Regungen, Macken und Fehlern; die so eben noch als menschlich zu erkennenden Figuren von Louisa Clement , Kate Coopers und Anna Uddenbergs grotesk überspitzte Super Women oder die banalen, aber im Wortsinn aufgeblasenen Geschäftsmänner von Alan Warburton. Martine Syms wiederum beschäftigt sich in ihren multimedialen, interdisziplinären Installationen mit
politischem Embodiment und seinen Erscheinungs- formen innerhalb der afroamerikanischen Kultur. Künstlerinnen wie Stephanie Dinkins oder Eli Cortiñas vermischen Aktivismus und Kunst, Technologiekritik und intime Selbstäußerung. Banz & Bowinkel zeigen neue Möglichkeiten, durch Apps und portable Anwendungen für Virtual Reality auf die Welt zu schauen.
Hier treffen sich Science-Fiction und Kunst; und es finden Bildwelten zueinander, die bislang nicht sehr viel miteinander zu tun hatten. Früher war es vor allem das Kino, das von der Zukunft erzählte: Im Jahr 1984 brachte Regisseur James Cameron seinen ersten „Terminator“-Film in die Kinos, die epische Erzählung von einem fast unzerstörbaren, zur Ab- lösung des Menschen entschlossenen Maschinen- Körper als Universalwaffe, die sich selbst immer
wieder neu zu erschaffen in der Lage war; sich selbst reparieren und die tödlichen Kräfte erneuern konn- te, während sie unaufhaltsam durch ein Schlachtfeld marschierte, von dem die Menschen schon lange geflohen waren (mit Ausnahme eines Jungen, der wiederum von einer hybriden Mensch-Maschine be- schützt wurde). Dass diese Geschichte immer noch nicht zu Ende erzählt ist, zeigt die mittlerweile sechs- te Neuauflage der Terminator-Saga, die im Herbst 2019 unter dem Titel „Dark Fate“ nicht nur die Hel- den des ersten Terminator-Films, Sarah Connor und den Terminator, mit den Original-Schauspielern Linda Hamilton und Arnold Schwarzenegger wie- derbelebte, sondern auch die immer noch aktuelle Frage: „Was ist (noch) Menschlich und was nicht?“ einmal mehr zu illustrieren suchte. Daneben entste- hen, komplexe Science-Fiction Filme wie etwa „I am Mother“, die von einem symbiotischen Verhältnis von Mensch und Maschine erzählen und über die moralischen Implikationen einer posthumanen Zu- kunft nachdenken.
Hier ist die britische TV-Serie „Black Mirror“ weniger abstrakt und dadurch perfider, weil nur einen kleinen, kaum merklichen Schritt von uns und unserem gegenwärtigen Leben entfernt. Die Plots sind vielfältig und extrem nachvollziehbar: Kinder können jederzeit problemlos überwacht werden, wenn ein kleiner Chip, ins Gehirn implan- tiert, das Sichtfeld des Kindes live auf die Screens der Eltern überträgt. Verbrechen werden gelöst und Versicherungsfälle geklärt, in dem sich Polizisten und Versicherungsangestellte Einblicke in die Erin- nerung möglicher Verdächtiger und Geschädigter verschaffen, und zusätzlich auf die Erinnerung jedes Lebewesen zugreifen können, welches sich zufällig am Tatort befand – und sei es ein Meerschweinchen. Bienen sind in der Zukunft von „Black Mirror“ längst ausgestorben und kehren als elektronische Mini-Drohnen wieder, die Daten statt Honig sam- meln. Eine Ehefrau ersetzt den bei einem Autounfall gestorbenen Gatten einfach durch eine Kopie, und versucht, dort mit ihrer Beziehung weiterzumachen, wo sie vor dem Unfall aufgehört hat. Das Unheim- liche an „Black Mirror“ ist nicht die Radikalität der hier erdachten Visionen, sondern deren Nähe zur banalen Realität unseres heutigen Alltags. Selbst in der Comedy sind die Androiden angekommen: die amerikanische Komikerin Whitney Cummings tritt für ihr Comedy-Special „Can I touch it?“ mit einer robotischen Doppelgängerin ihrer selbst auf, die Witze erzählt und ihr jeden Moment die Show zu stehlen droht.
In der bildenden Kunst markierten die 1990er Jahre ein erstarktes Interesse und Wiederauftauchen des Fleisches, vor allem in Form von prothetischen Erweiterungen und genetischen Manipulationen und biotechnologischen Verstärkungen des Kör- perlichen. In Theorie und Philosophie dachte man über die moralischen Implikationen des genetisch
codierten und veränderten Körpers nach. Konse- quenterweise gab das internationale Medienkunst- festival „Ars Electronica“ sich im Jahr 1997 den Titel „Flesh Factor“. Auf dem Festival stand die Frage „Sind menschliche Wesen Maschinen?“ im Zentrum und man debattierte neue Entdeckungen in den Neurowissenschaften in Biologie und experimen- teller Psychologie die diese Annahme zu unterstüt- zen schienen. In seiner Präambel formulierten die Macher des Festivals folgende Aussage: „In diesem Moment werden die Abenteuer der willkürlichen Identitäten und konstruierten Persönlichkeiten der Internet- Community in den Schatten gestellt von einem biologischen Quantensprung. Dolly das Schaf – das erste geklonte Säugetier – markiert den Beginn einer prozessualen Entwicklung, in der Body-Sampling und biogenetische Avatare in der nahen Zukunft Wirklichkeit werden können.“
Der australische Künstler Stelarc arbeitet seit Jahr- zehnten daran, die Dimensionen seines eigenen Kör- pers durch Prothesen wie eine elektromechanische „dritte Hand“ zu erweitern. Stelarc entwickelte außer- dem ein drittes, aus dem Internet zugängliches und belauschbares Ohr, welches er für mehrere Wochen auf seinem Handrücken züchtete. Der Mensch als Labormaus: diese durchaus ernst gemeinten Versu- che künstlerischer Übermensch-Werdung wirken ein Vierteljahrhundert später geradezu anrührend. Neu- lich versammelte das New York Magazine in einer anschaulichen Grafik die ganze Palette menschlicher Körperteile, die sich durch Erfindungen der moder- nen Medizin mittlerweile mühelos ersetzen lassen: Arme, Hände und Fußgelenke zählen dazu, ebenso wie künstliche Nasen, Herzen und Bauchspeichel- drüsen. Mediziner entwickeln Nanotechnologie, die bislang nur in der Science-Fiction einen Platz hatte.
DER GRENZENLOSE RAUM DER VIRTUALITÄT
Während Paul Virilio in den 1990er Jahren noch ver- schiedene Arten der „Transplantation“ als Mittel der Wahl imaginierte, um den mediatisierten Körper zu erweitern und damit innerhalb der damals existie- renden Grenzen von biotechnologischer Machbar- keit dachte, sind es gegenwärtig die neuen Möglich- keiten des virtuellen Raumes und der künstlichen Intelligenz – damals noch weitgehend auf das Reich der Fiktion beschränkt – in denen gegenwärtig die facettenreichsten Charaktere zu entdecken sind. Durch die jüngeren technologischen Entwicklun- gen, verbunden mit der umfassenden Veränderung sozialer Kommunikation und Selbstdarstellung durch soziale Medien, erscheint es für Kunst, Lite- ratur und Film, aber auch für aktualisierte Kunstfor- men wie Performance oder Netzkunst naheliegen- der als je zuvor, in eine faktisch grenzenlose virtuelle Welt vorzudringen.
Während die Debatte in den ausgehenden 1980er und 1990er Jahren von den Gefahren für mensch- licher Subjektivität und Identität geprägt wurde, bringen die jungen Künstler-User heute den neuen Technologien eine kritische Offenheit entgegen, die sich in ihren Arbeiten spiegelt. Sie entwickeln neue Varianten digital erweiterter, vervielfältigter, teilbarer Körperlichkeit. Der neue virtuelle Körper erscheint dabei omnipotent, fluide, transgressiv; wird aber auch in seiner Schutzbedürftigkeit, seinen Eigenarten und Schwächen dargestellt. Gerade die leichte Zu- gänglichkeit, die Schnelligkeit und die informellen Strukturen von digitaler und virtuell operierender Kunst scheinen geeignet, bislang marginalisierten Erzählungen Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen.
Die neuen Technologien ermöglichen es, zumin- dest online, bislang geltende Kategorien biographi- scher, kultureller, normativer Kontexte zu transzen- dieren und frei gewählte, fiktionale Identitäten zu entwerfen, die die stärksten menschlichen Bedürf- nisse und mächtigsten Impulse zu verkörpern in der Lage sind. Auf Plattformen wie Second Life scheint alles möglich: du kannst dein Geschlecht wechseln oder dich in einen Hybriden verwandeln, kannst deinen sozialen Status und einer Hautfarbe verän- dern, kannst schlechte Gewohnheiten und nervige
Die neuen, künstlerischen Visionen vom Körper sind radikal auf sich selbst bezogen, aber ebenso auf den unaufhörlichen Strom der Bilder, in den sie
von Beginn an eingebettet sind.
Charakterzüge eliminieren. Im Herzen dieser com- putergenerierten Bilder leuchtet der phantasmati- sche Körper als Träger neuer Vorstellungen vom Ich und dem Anderen auf; als Agens neuer Strategien von Kommunikation und Verführung.
Doch auch die andere, dunkle Seite dieses Be- gehrens wird in der neuen Kunst der Digitalität in dystopischen Bildern sichtbar: die Künstlerin Sidsel Meineche Hansen betrachtet in ihren Arbeiten die Instrumentalisierung des Körpers zwischen Porno- graphie, Heteronormativität und biotechnologi- scher Verwertbarkeit. Was definiert einen mensch- lichen – insbesondere weiblichen – Körper, der in Pornographie und Medizintechnik zur Ware wird, welche real und virtuell verwertet und konsumiert werden kann? Was sagt die Verschiebung hin zu Sin- gularität und Posthumanismus; hin zu Surrogaten
und prothetischen Fragmenten? Welche Formen werden industriell und kommerziell gesteuerte und instrumentalisierte menschliche Existenz und Reproduktion; werden Intimität und Begehren künftig annehmen?
Die hier versammelten Künstler entwickeln neue, alternative Erscheinungsformen des Körpers: polysexuell, trans und queer, elastisch, vielgestaltig, disloziert. Ihre digital erzeugten oder modifizierten Verkörperungen scheinen in der Lage zu sein, die Begrenzungen von Zeit und Realität hinter sich zu lassen. Die neuen, phantasmatischen Leiber strah- len, individualistisch ausdifferenziert, durch über- kommene Kontexte und Konventionen hindurch. Die neuen, künstlerischen Visionen vom Körper sind radikal auf sich selbst bezogen, aber ebenso auf den unaufhörlichen Strom der Bilder, in den sie von Beginn an eingebettet sind. Diese neuen Körper sind überall: in der Kunst, in der Mode, im Kino, im Pop, auf Social Media, und sie erinnern in ihren zahllosen Variationen und Polymorphien immer weniger an das, was wir bislang kannten.
Gegenwärtig sieht es so aus, als ob die Diskurse, der seit den 1970er Jahren um die Kategorien von Ge- schlecht und Gender geführt wurden, nun vermittels neuer, digitaler Produktions-, Verständigungs- und Kommunikationsplattformen den lange umkämpf- ten Weg für eine verstärkte Sichtbarkeit kultureller Differenzierungen, ebnen würden. Natürlich ist mit einer solchen Durchlässigkeit von Diskursen auch die Gefahr von Extremismus und Bildproduktion und weltanschaulicher Ideologisierung nicht aus- geschlossen, von der etwa der Künstler Jon Rafman eindrücklich im Gespräch für diesen Band erzählt.
DER KÖRPER ALS MEDIUM KULTURELLER EINSCHREIBUNG: POLITISCHES EMBODIMENT
Philosophische, literaturwissenschaftliche und kunsthistorische Diskurse, die um den Körper als primäres Medium kulturhistorischer Einschreibung und politischen Embodiments kreisen, angesto- ßen und formuliert von Vordenkern wie Michel Foucault, Luce Irigaray, Helène Cixous oder Judith Butler, werden gegenwärtig in völlig neuen kultu- rellen und künstlerischen Bereichen adaptiert und aktualisiert: Kunst und Pop, Film, Theater, Netzkul- tur, Performance – sie alle profitieren von der erwei- terten Bandbreite heterogener Einflüsse, die ihre Ursprünge in der gegenwärtig entstehenden Kultur der Digitalität hat.
Es sieht alles danach aus, als ob moderne Tech- nologie es möglich machen könnte, das eigene Ich sowie Konzepte von Gender und persönlicher Identität nicht mehr länger ausschließlich in Über- einstimmung mit der Faktizität des eigenen Körpers zu definieren, sondern auf eine Vielzahl intuitiver, digitaler Werkzeuge zuzugreifen, welche potentiell jedermann die Möglichkeit geben, sich selbst neu zu erfinden. Noch findet ein Großteil dieses Diskurses um alternative Identitätsformen innerhalb verborge- ner Subkulturen im Netz statt. Doch er führt bereits jetzt in der Kunst zu einer atemlosen Neuentste- hung und Vermischung künstlerischer Strategien, von Performance, Malerei, Skulptur, über digital veränderte Fotografie, Animationskunst und Manga bis hin zu politischem Aktivismus. Die Ergebnisse dieser hybriden Prozesse sind dementsprechend eher auf Social Media, in Clubs oder digitalen Zines zu finden als in Galerien und Museen.
Im Zuge der beschleunigten Neuerfindung und unaufhörlichen Ausdifferenzierung künstlerischer und kommerzieller Statements und ästhetischer Diskurse zu den Themen Körper, Geschlecht und Gender scheint die Zersplitterung in eine Vielzahl unterschiedlicher Teile Normalität zu werden. Es entstehen elastische, veränderliche Positionen, die sich in unendlichem Maße wieder neu zusammenset- zen lassen, und in jeweils angepaßten, individuellen
Ausdeutungen zu kraftvollen Werkzeugen jedes Individuums werden, dass sich zugleich herausge- fordert und befreit sieht von diesen neuen Möglich- keiten virtueller Selbsterfindung.
DIGITAL BODIES: TRANS, QUEER, HYBRID
Im Bereich queerer Pornographie ist ambivalente oder polyvalente Sexualität längst sichtbar; so wird etwa die phänotypische Repräsentationen zweier Geschlechter in einem Körper als Fetisch inszeniert; zu den bekanntesten Köpfen der Szene zählt etwa Transmann und Aktivist „Buck Angel“, der sich selbst zu hypertropher Männlichkeit stilisiert hat. Das briti- sche „Love“ Magazin widmete als eine der ersten in- ternationalen Publikationen im Jahr 2011 eine eigene Ausgabe einer verwischten, mehrdeutigen Sexualität.
Während ein Künstler wie Genesis-P-Orridge die eigene, von ihm „Pandrogenie“ genannte, ge- schlechtliche Transformation bereits seit Mitte der 90er Jahre als Performance am eigenen Körper vor- führt, erlangt Transsexualität jedoch erst in jüngster Zeit Sichtbarkeit als selbstverständlicherer Teil des Mainstreams: so zeigte die französische Vogue im Jahr 2017 mit Valentina Sampaio erstmals ein Trans- gender-Model auf ihrem Cover. TV-Serien wie Jill Soloways „Transparent“ erzählen vom Umgang mit Transsexualität innerhalb eines etablierten Akademi- kermilieus; „Euphoria“ schildert die Identitätssuche junger Menschen entlang des ganzen Spektrums geschlechtlicher Identität.
Eine Fülle extrem ausdifferenzierter, ästheti- scher Selbstinszenierungen von Trangender-Models, Künstlern und Performern richtet sich produktiv ge- gen die Idee recue einer festgelegten Dichotomie der Geschlechter und hinterläßt vielgestaltige Spuren in der künstlerischen Praxis einer jüngeren Generation.
In Zeiten, in denen Kategorien wie „Trans“ und „Queer“ Eingang in den allgemeinen Sprachge- brauch finden und als Formen von Identität zuneh- mend gesellschaftlich integriert werden, halten neue Geschlechtsidentitäten Einzug in Kunst und Pop, und öffnen damit die Transformation des Körpers in für neuartige gesellschaftliche Lesarten. Die in- novativsten künstlerischen Körperkonzepte finden sich gegenwärtig in der LGBTQ -Szene. Susan Sontag notierte bereits 1964 in ihren Ausführungen über „Camp“ „…Die raffinierteste Form des sexuellen Reizes besteht (ebenso wie die raffinierteste Form des sexuellen Genusses) in einem Verstoß gegen die Natur des eigenen Geschlechts. Das Schönste am männlichen Mann ist etwas Weibliches, das schönste an einer weiblichen Frau ist etwas Männliches …“
Gegenwärtig entsteht eine Fülle neuer Varian- ten transsexueller und polysexueller, aber ebenso transhumaner und hybrider Körperbilder, befeuert von Möglichkeiten der Synthese von Digitalem und
Realem, wie sie nie zuvor denkbar waren. In diesem Zusammenhang werden auch die Möglichkeiten neuartiger, erotischer Beziehungen von Mensch und Maschine wissenschaftlich diskutiert – etwa von Da- vid Levy, einem britischen Forscher für künstliche Intelligenz, der diesen Zusammenhang auf die ein- gängigen Slogan „Love and Sex with Robots“ brach- te; dazu Bücher herausgibt und regelmäßig einen internationalen Kongress zum Thema einberuft. Levy zweifelt nicht daran, das robotisch aufgerüste- te Puppen als Sexpartner bald als menschliche Be- gleiter akzeptiert sein werden. Schaut man sich die Entwicklung weiblicher Androiden für den privaten Gebrauch an, wie sie etwa in Japan sehr stark voran- getrieben wird, und die Art, wie für diese Androi- den, etwa das adoleszente Modell „Asuna“ von der Firma A-Lab, geworben wird, läßt sich ein mulmiges Gefühl jedoch kaum leugnen.
Kathleen Richardson von der Universität Lei- cester engagiert sich seit Jahren in einer Kampag- ne gegen Sex-Roboter. Realistischer scheint da die Einschätzung der kalifornischen Roboterforscherin Julie Carpenter zu sein, die sagt: „Die Sexualisierung menschenähnlicher Roboter wird auch in naher Zu- kunft nur einen kleinen Teil unserer Erfahrung mit dieser Technologie ausmachen.“
Irgendwo dazwischen operiert ein Szenario, wie Spike Jonze es in seinem Film „Her“ aus dem Jahr 2013 entwirft, in dem sich die Hauptfigur in eine cloudbasierte, künstliche Intelligenz in Form einer virtuellen Assistentin verliebt: ein verläßliches, ein- fühlsames Gegenüber, das jedoch zunehmend au- tonome Intelligenz entwickelt und schließlich die „Beziehung“ beendet.
Ob am Ende all dieser Prozesse, Phantasien und Erfindungen der Körper noch als menschlich zu gel- ten hat, wird an anderer Stelle zu beantworten sein. Während Marshall McLuhan in den 1960er Jahren um das Verschwinden des Körpers in den moder- nen Datenströmen fürchtete, und Jean-François Lyotard in den 1980er Jahren auf sehr aktuelle Weise rätselte, ob „das Denken ohne den Körper möglich sei“, scheint es gegenwärtig, als würde der Körper in seinen zahllosen, digitalen Neudeutungen so schnell nicht abgeschafft werden.
Die von der neuen digitalen Kunst aufgeworfe- nen Fragen, die wir uns als Gesellschaft gegenwärtig und künftig stellen müssen, könnten spannender kaum sein: wollen wir eine Vielzahl an Geschlech- tern, ein universelles Geschlecht, oder entscheiden wir uns künftig, biologisches Geschlecht und Gender überhaupt nicht mehr zu repräsentieren? In diesem Spannungsfeld entsteht großes Potential: wenn wir die konstruierte und potentiell manipulative Natur jedes Bildes anerkennen und zugleich jeden An- spruch darauf aufgeben, was bislang als „natürlich“ oder „normal“ galt, wird es möglich, wirklich neues Terrain zu besetzen und nicht nur eine neue Ästhetik, sondern möglicherweise auch neue Lebens- und Part- nerschaftsformen zu entwickeln. Zunehmend losge- löst von den bisherigen Anbindungen an Geschlecht, physische Verortung und biologische Kategorisie- rung, erfinden und entblößen sich Menschen in zu- nehmendem Maße online, gelegentlich einsam und isoliert, aber zugleich permanent global verbunden.
Ein Modus der Verführung, wie Jean Baudrillard ihn vorschlug, könnte dabei der Schlüssel sein: eine universelle, symbolische Verführung der Zeichen, die auf radikale Weise alles in Frage stellt, was wir bislang kannten und als „Normal“ definiert haben.
Was sich gegenwärtig in den Künsten, aber auch in Mode und Pop beobachten lässt, ist die umfas- sende Absage an obsolete, repressive, heteronorma- tive Kontexte und Codes von Gender, ethnischer Kategorisierung und individueller Identität. In der bildenden Kunst zeigt sich dies als endgültige Absa- ge an Genregrenzen, welche historisch geformt und jahrzehntelang reproduziert wurden. An die Stelle der genialischen Künstlerpersona tritt eine Vielzahl erfundener, elastischer Identitäten, die sich in stän- digem Wandel befinden. Diese, manifestiert in Form neuer Körperoberflächen und neuer Formen indivi- duellen, politischen und gesellschaftlichen Embodi- ments, bilden die Matrix, innerhalb derer wirklich neuartige bildkünstlerische Ideen entstehen.
Im Kern der hier vorgestellten digitalen Verkör- perungen wird die Erkenntnis stehen, dass „neutrale Technologie“ ebenso wenig existiert wie „neutrale Bilder“. Jedes Bild, das wir sehen, ist von jemandem oder etwas gemacht worden; jedes Bild wird künftig digital erstellt und bearbeitet worden sein. Es liegt an uns, wie wir uns dazu verhalten: ob wir uns ent- scheiden, passiv die kommerziell generierten und aufbereiteten neuen Welten zu konsumieren, die für uns gemacht werden oder ob wir aktiv damit inter- agieren und diese selbst gestalten. Nicht zuletzt ist eines der großen, pragmatischen Verheißungen des digitalen Zeitalters die Verwischung der Grenzen von Produzent und Konsument.
Während Ingenieure, Philosophen, Silicon Valley Hippies, Wissenschaftler und Programmierer an neu- en Möglichkeiten arbeiten, Menschen und künstli- che Intelligenz zu verschmelzen, nutzen Künstler die ambivalente, schwer fassbare und intime Kraft des Körpers, um in immersiven Environments, Aug- mented Reality und CGI, virtueller Skulptur und digital simulierter Malerei, Animationen, Apps und Youtube-Clips über den Austausch zwischen Unbe- wusstem und Bewusstem, Norm und Verstoß zu spe- kulieren und nach der Zukunft des Menschen mit Blick auf Trans- und Posthumanismus zu fragen. Be- vor wir in eine Zeit eintreten, in der autonome künst- liche Intelligenz, empathische Roboter, Cyborgs und hybride Körperformen allgegenwärtig sein werden, ist genau jetzt der Moment, um uns zu fragen, wel- che Erkenntnisse, Paradoxien und Konsequenzen sich aus dem menschlichen Gebundensein an eine sterbliche Hülle ableiten lassen, und was davon als Potential und Motor einer veränderlichen, offenen, integrativen Gesellschaft genutzt werden kann.
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