SPIEGEL | 10 February 2018

In a new column, Spiegel writer Sibylle Berg uses Signe Pierce’s American Reflexxx as a starting point for a wider conversation about the relationship between immediacy, tolerance, self-control and bigotry in the modern world (article in German).


Man mag es nicht, das Fremde

By Sibylle Berg

Reflexe unhinterfragt auszuleben, ist das Ding der Stunde. Man nennt es Meinungsfreiheit. Man nennt es: unsere Werte verteidigen. Dabei kann der Mensch Vorurteile überwinden. Vielleicht.

Heute ausnahmsweise ein Link am Beginn eines Textes. (Sie erinnern sich, Links, Lesefluss, die Vernichtung des kreativen Denkens.)

Das Video der Künstlerin Signe Pierce zeigt eine der unangenehmen Eigenschaften der menschlichen Spezies: Die Ablehnung der Fremden. Des nicht Bekannten. Gerne wird für dieses Handicap des menschlichen Charakters der Beginn unserer Geschichte zitiert. Die feindlichen Gruppen, Stämme, der Überlebensreflex. 

Aber please. Wir leben im Jahr 2018. Das wird ja gerne gesagt: Bitte, wir haben 2018. Als ob die Zeit eine Bedeutung hätte, als ob der Mensch entwicklungsfähig wäre, als ob er denken möchte, wenn es doch einfacher ist, abzulehnen. 

Das Ideal der Menschen scheint die Unauffälligkeit

Reflexe unhinterfragt auszuleben, ist das Ding der Stunde. Man nennt es Meinungsfreiheit, man nennt es: unsere Werte verteidigen, und es legitimiert das Zusammenschlagen von Menschen mit einem anderen Melaninanteil in der Haut, oder einer kleinen Kappe auf dem Kopf. Es legitimiert, alles abzulehnen, was anders aussieht als man selber. Zu dünn, zu dick, ein zu spitzes oder zu rundes Gesicht, zu dunkel, zu weiss, zu grosse Ohren – kurz: die Minderheit.

Das Ideal der Menschen scheint die Unauffälligkeit. Irgendwas mit einem hellen Gesicht und einem Penis, also nicht im Gesicht. Das Untergehen in der Masse, die sich wie aufgezogen bewegt in ihrer eigenen Bräsigkeit. Nur nicht auffallen. Wer aus der Menge ragt, den erwischt die Sense des Schnitters. Menschen lehnen ab, was ihnen nicht ähnelt. Selbst wenn es nicht besonders attraktiv ist, wenn es gelbe Hornhaut an den Füßen trägt und drei Kinne… 

Hoppla, ich vergesse mich. Die Anteilnahme der meisten reicht nicht über die Angehörigen der Familie oder der Gruppe, in der sie sich bewegen, hinaus. Die meisten werden durch Wohlstand ein wenig toleranter. Dann lieben sie ihn vielleicht nicht, den Fremden, aber sie lassen ihn am Leben. Vielleicht verkauft er ja gutes Obst, vielleicht putzt sie gut. 

Dass Fremde reiche Firmen übernehmen, Häuser und Hotels und ganze Innenstädte aufkaufen, zählt nicht, das sieht man nicht. Und nie sind es in Zeiten der wirtschaftlichen (gefühlten oder realen) Stagnation Banken, Steueroasen, Panama Papers oder Privatisierungen von gesellschaftlichem Eigentum, die den Hass der Massen mobilisieren. Immer ist es der Fremde. Ist einfacher. Lässt sich besser vermitteln.

Das Volk war schon immer bereit, für ein paar Despoten in den Krieg zu ziehen

Von Politikern, Populisten, den Medien. Auf sie mit den Mistgabeln. Das hat sich bewährt. Das lenkt so schön ab. Die Triebabfuhr, sie wissen schon. Über Jahrtausende waren es die Juden, heute sind es die Juden und die Muslime, und die Schwarzen, morgen sind es die Sozialhilfeempfänger, die RollstuhlfahrerInnen und die Rothaarigen (vermutlich eh Juden), es ist egal. Es ändert sich – nichts. Die lachende multiethnische Community auf dem Google-Campus ist die Ausnahme. Junge urbane Gutverdiener. Und die anderen? Die anderen hassen einander weiter. Der Genetik geschuldet. Den Medien folgend, der Verhetzung von Populisten gedankt. Das Volk ist beschäftigt.

Es war schon immer bereit, für ein paar Despoten in den Krieg zu ziehen, einander abzuschlachten im Namen der Freiheit. Im Namen der Freiheit in Ländern wie Afghanistan. Oder Mali. WTF? Egal. Hauptsache Freiheit. Hauptsache, es hat nie mit wirtschaftlichen Interessen zu tun, wie sonst eigentlich alles.

Alles, was sich Menschen antun, all der Hass, das Leid, das Elend, der Tod, alles basiert auf Manipulation. Auf Hetze. Auf Apellen an eklige Instinkte, die man überwinden könnte. Schon immer haben die Armen einander dafür umgebracht, dass Reiche reicher wurden. Vielleicht bekommt man die Neigung, alles, was einem nicht gleicht, misstrauisch zu betrachten, nie vollkommen aus dem menschlichen System.

Die Tiere, sie ahnen es. Aber man kann Menschen dazu anhalten, sich zusammenzureißen, zu lernen. Ihre Vorurteile zu überwinden. Leider war das noch nie im Interesse jener, die die Macht in einem Land repräsentieren. Denn Menschen, die einander hassen, sind zu allem bereit. Menschen, die zusammenhalten, eine Gefahr. Für wenige.

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