DIE ZUKUNFT | 26 January 2018

Michael Meyns has written a review of Virtual Normality – Women Net Artist’s 2.0, a new group show at Museum der bildenden Künste Leipzig that includes the work of Molly Soda, Signe Pierce and Arvida Byström (article in German).


Pics or it didn’t happen

By Michael Meyns

Die vielfach zeitgemäße Ausstellung „Virtual Normality“ zeigt die Verschmelzung von Kunst und Internet

Wie reagieren ganz normale Menschen, vor allem aber Menschen in der (anonymen) Masse auf das Andere, auf einen Menschen, der auf die ein oder andere Weise nicht der Norm entspricht, ungewöhnlich und besonders ist? Eigentlich kennt man die wenig erfreuliche Antwort auf diese Frage und doch überrascht es zu sehen, wie Menschen auf die Performance von Signe Pierce reagiert, die von Alli Coates gefilmt und als „American Reflexxx“ zu einem viralen Hit wurde. In knappen Kleid läuft Pierce da an einem Abend durch die Flaniermeile von Myrtle Beach, an der Küste des Südstaats South Carolina, etwas aufreizend und sexy, aber es ist ein heißer Sommertag, viele andere sind auch leicht bekleidet. Doch Pierce hat noch etwas anderes an: Eine silbern glänzende Maske, die ihr Gesicht verdeckt und möglicherweise ein Auslöser war, eine selbstgewählte Anonymität, die viele Passanten reizte. So sehr, dass sich ein Mob bildete, die Masse jeglichen Anstand verlor, Pierce – die während der gesamten Performance kein Wort von sich gab – erst beschimpfte und schließlich gar tätlich angriff.

„American Reflexxx“ ist das wohl bekannteste Werk, das in einer sehr sehenswerten, sehr zeitgemäßen Ausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste zu sehen ist. Unter dem Titel „Virtual Normality“ werden bis zum 8. April diverse Arbeiten gezeigt, allesamt von Frauen, die sich auf unterschiedliche Weise im weiten Feld von Kunst, Internet, virtuellen Welten und nicht zuletzt Feminismus befassen. Um die Darstellung des weiblichen Körpers geht es da oft, um Bilder, die von Frauen gemacht werden, aber auch solchen, die Frauen von sich machen. Unzählige Fotos werden jeden Tag in den sozialen Medien hochgeladen, auf Facebook, Instagram, auf Dating- oder Selbsthilfeseiten. Wie viel man dabei auch unwillentlich von sich selbst preisgibt zeigt etwa die Arbeit „Slide to Expose“ von Molly Soda, die ein Zimmer nachgebaut hat, wie es wohl viele junge Frauen bewohnen. Der Clou dabei ist eine in der Ausstellung herunterladbare Software, die mit Hilfe einer Art QR-Code ermöglicht, Einblicke in das Selenleben der fiktiven Bewohnerin zu werfen.

Das Maß an Selbstoffenbarung im Internet ist zwar immer wieder ebenso erschreckend wie erstaunlich, dennoch gibt es Grenzen, gerade wenn es um Nacktheit geht. Selbst harmlose Fotos werden da von den keuschen Algorithmen meist amerikanischer Konzerne erkannt und zensiert, was man – wie die Künstlerinnen Arvida Byström und Molly Soda – auch als Versuch verstehen könnte, ein bestimmtes Menschenbild als Norm zu etablieren. Dem Stellen sie den Bildband „Pics or it didn’t happen“ entgegen, der Fotos zeigt, die von Instagram zensiert wurden. Ein anderes Weltbild zeigen diese Bilder, nicht mehr eins, das von einem männlichen Blick geprägt ist, sondern ein offenes, freieres.

Gerade in Zeiten in denen im Internet die Debatte über Gleichberechtigung, wahren oder falschen Feminismus, die Notwendigkeit, aber auch Problematik von #MeToo oder #TimesUp tobt, lohnt sich ein Besuch einer Ausstellung, die einen spannenden Überblick zu einem weitreichenden Thema zusammenbringt, das auf absehbare Zeit im Brennpunkt stehen wird.

Museum der bildenden Künste Leipzig, bis 8. April

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